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Atmosphärisches Wochenbuch

Zwitschern im Selbstversuch

Raimund Schöll am 16.01.2016

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In den letzten Wochen habe ich mich nebenher hin und wieder in die Zwitscher-Welt (Twitter) hinein begeben. Interessant ist, dass es sich tatsächlich um eine Art von virtutellem Marktplatz zu handeln scheint, an dem jeder mal so raushauen kann, was ihm gerade einfällt. Zugebeben war ich am Anfang eher skeptisch. Ich und Twitter, mag das gut gehen? Zumal ich technisch eher unerfahren bin, was den Umgang mit den neuen sozialen Medien angeht. Aber Twitter hat durchaus seinen Reiz, habe ich gemerkt:

Du kannst tatsächlich - wie gesagt -, wenn dir was auf der Zunge brennt, mal einen raus lassen, in der Hoffnung bzw. mit der Fantasie, irgendeiner wird das jetzt gerade aufnehmen.

Du bekommst einen guten Zugang zur aktuellen politischen und sozialen Stimmung im Lande. Ich sitze ja gewissermaßen nur in meiner eigenen atmosphärischen Blase - Bourdieu würde sagen in meinem "sozialen Feld" - bekomme so die anderen nur recht rudimentär mit. Auf Twitter kannst du Eingang finden in andere Milieus und Sphären, die dir sonst verwehrt sind. Ist ein wenig wie bei der Bundeswehr damals - da kam ich auch mit Kameraden in Kontakt, die ich außerhalb der Kaserne  wahrscheinlich nie zu Gesicht bekommen hätte.

Twitter hat mit somit auch etwas zutiefst Demokratisches. Denn jeder kann sich dort veräußern. Der Professor steht quasi gleichwertig neben dem Hartz 4- Empfänger mit 140 Zeichen als Leseprobe zur Verfügung. Das ist löblich. Auch jene bekommen also eine Stimme, von denen man sonst wenig bis nichts mit bekommt. Weder in den Nachrichten noch in den Talk-Shows.

Was die Nachteile angeht, könnte man hierzu wahrscheinlich einiges sagen. Die sind ja gerade in aller Munde. Ein wesentlicher scheint mir zu sein, dass die Leute sich auf Twitter wechselseitig infizieren, vorrangig mit Emotionen - teilweise mit solchen, die sie selbst bislang noch gar nicht hatten. So gesehen ist Twitter sicher eine Art Ablassbecken für emotionalen Überdruck und eine Emotionserzeugungsmaschine ersten Ranges. Es entstehen virtuelle Atmosphären, die gleichsam nach allem und jedem ausgreifen, wenn man nicht aufpasst.

Ganz offensichtlich gibt es auch ganz gezielte Bestrebungen von nicht wenigen, eine Art atmosphärische Oberherrschaft zu erlangen. 

Sei's drum: Ich werde es mal eine Zeit lang weiter ausprobieren. Ich sehe Twitter u.a. als Möglichkeit, eine Art politisches Tagebuch bzw. Selbstgespräch zu führen. Was bewegt mich, was regt mich auf?! Der Bürger der Polis ist abends auch auf den Marktplatz gerannt, um loszuwerden, was er los werden wollte. Jedenfalls ist das meine Vorstellung von der antiken Polis. Dieses Ventil haben wir in der Moderne nicht mehr so ohne Weiteres. Wenn ich raus renne aus dem Haus, wartet keine Agora auf mich. Heute gibt es für das Zoon Politikon hierfür halt Twitter oder Vergleichbares. Man geht dort hin und sagt hin und wieder mal einfach was. Wenn man kein Stammtischfan ist, sicher eine Alternative

Demagogen, Falschmünzer, Angeber, Wichtigtuer, Selbstdarsteller, Hysteriker hat es immer schon gegeben. Das wird sich auch auf Twitter selbst mit Verboten und Löschungen nicht ändern lassen. Wer da hin geht, muss das aushalten lernen.

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