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Atmosphärisches Wochenbuch

Wer singt, komplettiert sich. Atmosphärisches zum chorischen Gesang

Matthias Ohler am 08.05.2011

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Wer singt, komplettiert sich

Über das Menschsein beim Singen

In Gesang und Musik ist reine Freude, Lob, Verzweiflung, großes Fragen, Verwunderung und große Liebe. Alles, was zählt. (Victor Klein)

Beginnen wir mit einer (für manche) altbekannten Geschichte:

Ein Kind wird geboren, die Eltern freuen sich. Das Kind ist gesund und entwickelt sich prächtig. Es beginnt sehr früh zu zeichnen, intensiv zu spielen. Ganz von alleine entdeckt es für sich das Rechnen am alten Abakus des Vaters. Nur: es spricht nicht; kein Wort kommt über seine Lippen.

Die Eltern wollen das Kind nicht mit ihren wachsenden Sorgen verstören. Leidiglich eine Untersuchung beim HNO-Arzt ergibt: Kehlkopfsenkung in Ordnung, kein weiterer Befund.

Am Morgen seines fünften Geburtstages sagt das Kind plötzlich zu seinem Vater: „Papa, der Kakao ist heute etwas kalt geraten.“ Der Vater ist verdattert und weiß nichts zu sagen. Das Kind: „Ich wollte Dich nicht beleidigen, Papa. Ist ja auch halb so schlimm, kann man wärmen, den Kakao.“

Der Vater ruft die Mutter herbei. Sie fragt das Kind, was es denn gesagt habe. „So eine Aufregung wollte ich gar nicht“, meint das Kind. „Ich mach mir den Kakao warm.“ Die Eltern rufen wie aus einem Munde: „Aber du kannst ja sprechen!“ Worauf das Kind antwortet: „Natürlich. Ich kann schon lange sprechen, ich bin ja schon fünf.“ Die Eltern: „Ja, und warum hast Du bisher nie etwas gesagt?“ Das Kind: „Bis jetzt war alles in Ordnung.“

 

Warum sprechen wir Menschen? Und: warum singen wir? Es gibt viele Antworten in Form von Anekdoten, Aphorismen, ganzen wissenschaftlichen Abhandlungen. Wir müssten es ja nicht tun. Und doch empfindet, wer singt, dies häufig wie ein Muss. Wir reden an dieser Stelle nicht von der Verpflichtung zum Singstunden-Besuch. Wir reden davon, daß der Gesang wie von selber aus uns klingt, wir uns ausdrücken darüber, wie es uns geht und was in uns lebt: Trauer, Freude, Begeisterung, Schmerz, Verwunderung. Ist nicht mancher stimmliche Ausdruck der Verwunderung schon wie ein kurzer Gesangston? Erst recht der Juchzer (oder „Juchitzer“, wie Hubert von Goisern sagt) bis hin zum Jodler oder zum Jubel, der so schnell in ein Lied übergeht. Die Atmosphäre englischer Fußballstadien ist ohne den kehlig-sonoren Gesang der Fans doch gar nicht zu erkennen.

Wenn wir uns begrüßen oder verabschieden, oder wenn wir Mitgefühl ausdrücken, singen wir den Menschen, die wir meinen, beinahe zu: tschühüüüüs, halloohooo, ochjeeeee. (Haben Sie´s gehört ...?)

Und nun können wir unseren Melodien Sprache beilegen: Texte, Gedichte. Denken wir nur an die Marsellaise, an „Kämpfen, Lautern, kämpfen!“. Und denken wir – wie weit das Trapez doch geht! – an „Oh Haupt voll Blut und Wunden“ oder „Grüß Gott mit hellem Klang“. In allen Sprachen dieser Welt wird gesungen; in vielerlei Rhythmen, in denen wir der jeweiligen Sprache beinahe abzulauschen scheinen, was sie im Rhythmus des Sprechens als ihren musikalischen Ausdruck anbieten will.

Wer singt, drückt aus: ich mag nicht allein bleiben. Menschen sind darauf angewiesen, vom Säuglingsalter an, sich zu vervollständigen. Das geht nur mit den anderen, für die das in gleicher Weise gilt. Der Mensch ist – mit einem Wort des Aristoteles – ein zoon politikon, ein auf Gemeinschaft angelegtes, Gemeinschaften bildendes Wesen. Miteinander zu musizieren, und dabei besonders im Chor zu singen, sich aufeinander einzulassen, ineinander zu tönen und etwas zum Klingen zu bringen, das niemand alleine fertig brächte, verschafft höchste Befriedigung für den Wunsch nach Vervollkommnung seiner selbst als verletzliches Wesen, das ein verlässliches sein will.

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