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Übersicht

Atmosphärisches Wochenbuch

Marcus Schönherr über Trump und Grenzen

Matthias Ohler am 13.11.2016

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Marcus Schönherr, Mitbegründer des wundervollen und empfehlenswerten FamThera-Instituts Leipzig ( http://www.fam-thera.de ), sandte mir ohne jegliche Absicht, damit an die Öffentlichkeit zu gehen, den folgenden Text zu. Er erlaubte dann freundlicherweise auf meine Anfrage hin, den Text hier als Gast-Beitrag zu veröffentlichen. Aus meiner SIcht bietet der kurze Essay u.a. aufmerksame sprachliche Fokussierungen und wolhtuende Kontextualisierungen an, die in den meisten der hierzulande trumpetenden Medien nur wenig beredet werden.

 

Der Trump in uns

Der 9. November möchte sich hartnäckig als historisches Datum etablieren. Großes Entsetzen über die Wahl von Donald Trump. Wie konnte das geschehen? Wer hat ihn gewählt? Wo kommen auf einmal diese Leute her? Wie kann man so sein, denken und reden?

Der Vormarsch des Pöbels macht uns Angst und widert uns an. Offenbar gibt es eine graue versteckte Masse, die jetzt aus ihren Löchern kriecht, vielleicht die bisherigen Nichtwähler. Tiefe Ressentiments haben ihre Kanäle an die Öffentlichkeit gefunden.

So klingt eine erste Reaktion, die noch viel verurteilender und emotionaler fortzuführen wäre. Bei nüchternen Betrachtung drängt sich aber auf, dass ein solches Massenphänomen, wie es sich derzeit in Europa und Amerika zeigt, nicht als Irrtum von einzelnen abgetan werden kann. Worum geht es also im Großen und Ganzen? Was bewegt die Menschen? Was hat das mit uns zu tun?

Nun bin ich weit davon entfernt, einen solch komplexen Zusammenhang auch nur annähernd analysieren zu können, aber ein Aspekt drängt sich für mich absolut in den Vordergrund, und zwar ist es das Thema GRENZEN.

Ein phänomenologischer Beleg für die Bedeutung dieses Themas ist, wie häufig das Wort GRENZE in den Diskussionen vorkommt: Abgrenzen, Ausgrenzen, Begrenzen, Grenzkontrollen, Obergrenze ...

Gleichzeitig scheint es immer noch ein Wagnis zu sein, solches in den Mund zu nehmen. GRENZEN waren offenbar zum Tabu geworden. Stattdessen war Die Grenzen fallen die allgegenwärtige Leitlinie der Globalisierung mit all ihren Versuchungen. Denken wir ans Internet als das Paradebeispiel für gewollte Entgrenzung/Teilhabe einerseits und Grenzüberschreitungen in die Privatsphäre andererseits. Historisch eingeordnet, war es das gesellschaftliche Thema im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts: frei sein, tolerant, antiautoritär. Dies wurde zum neuen Normativ, ein grenzenloser (entgrenzter) Liberalismus.

In Deutschland trieb das besondere Blüten: der ökologisch und sozial engagierte, ernährungsbewusste, stets verständnisvolle, offene Mensch, der sich politisch korrekt ausdrückt. Bei diesem Phänomen hege ich allerdings den Verdacht, dass es sich dabei auch um einen historisch motivierten Reflex handelte, wieder zu den Guten zu gehören, der gute Deutsche zu sein.

Worauf will ich hinaus? Dazu ein Beispiel aus meinem Erfahrungsfeld. In der Erziehungs- und Familienpsychologie ist seit mindestens 20 Jahren klar, dass der antiautoritäre (grenzenlose) Ansatz gescheitert ist, der übrigens oft mit einer Laissez-faire-Haltung verbunden war. Diese Eltern mussten im Umgang mit ihren wütenden, teilweise tyrannischen Kindern lernen, wieder mehr Struktur, Regeln und Grenzen zu etablieren, eine Autorität im Sinne von sich stark machen für das Kind. Deren Kinder waren schlichtweg überfordert angesichts der endlosen Freiräume und Entscheidungsoptionen. „Kinder brauchen Grenzen“ - so der Buchtitel von Jan-Uwe Rogge aus dem Jahr 1993. Später hat Jasper Juul mit „Grenzen, Nähe, Respekt“ das Thema vertieft. Grenzen sind für die Entwicklung eines Kindes enorm wichtig, sie geben Halt, Sicherheit, Orientierung und sie bieten Reibungsfläche. So könnte man den „Wutbürger“ als das überforderte Kind in einer grenzenlosen Welt ansehen (was keine Rechtfertigung für deren Verhalten sein soll). Das Problem ist aber, dass das liberale Lager es den Populisten überl.sst, die Grenzen der Entgrenzung zu thematisieren. Und man verharrt in einer geradezu provozierenden Selbstgefälligkeit. Die Verkörperung dessen ist für mich das Führungsduo der Grünen Göring-Eckardt und Hofreiter mit ihrer gehemmten Steifheit und Humorlosigkeit. Glattgebügelter politischer Biedermeier. Da schläft einem alles ein. Und dort liegt das nächste große Problem: auch die emotionale Seite des politischen Geschehens wird von den Populisten besetzt.

Mit der Haltung Wir sind die Guten und das sind die Doofen kommt man allerdings kein Stück weiter – im Gegenteil. Als Psychologe behaupte ich, dass man mit den eigenen Ängsten, Vorbehalten, Ressentiments und - um es ganz archaisch auszudrücken - „bösen Anteilen“ in Kontakt treten muss, um einer inneren und äußeren Polarisierung entgegenzuwirken.

Ein lebendiges Gegenbeispiel bot Sigmar Gabriel, als er die Pegida-Leute als „Pack“ bezeichnete. Er wollte sich abgrenzen bzw. abheben und ist dabei unreflektiert auf deren Sprachniveau gesunken bzw. hat (vorübergehend) seine humanistische Grundhaltung verlassen. Persönlich steht Gabriel bekanntlich vor der schweren Aufgabe, seinen „bösen“ Nazi-Vater in seine Biografie zu integrieren.

Psychologisch besteht bei einer „un-verschämten“ Auseinandersetzung mit sich selbst das Ziel nicht darin, ungeliebte Anteile zu verteufeln und auszumerzen, sondern ihre Existenz anzuerkennen, sich mit ihnen ins Benehmen zu setzen und sie schließlich (in Grenzen und nicht bedingungslos) zu integrieren. Wir behaupten, dass Wut, Hass, Angst, Neid – sozusagen der „Trump in uns“ - auch Anteile einer gesunden Psyche sind.

Was heißt, „in Grenzen integriert“? Das lässt sich ganz gut mit einem Orchester vergleichen und erklären: Ganz individuelle und unterschiedliche Mitspieler gehören zu einem Ganzen, ordnen sich bestimmten Regeln unter, orientieren sich am Dirigenten und verzichten der gemeinsamen Aufführung zuliebe auf ein gutes Stück Autonomie. In Solo-Parts können einzelne Mitspieler ihre individuelle Klasse zur Geltung bringen.

Um es klar zu stellen, ich sehe in dieser Betrachtung nicht den Ansatz zur Weltrettung, sondern dafür, bestimmte Themen/Anteile/Stimmen in der persönlichen, politischen und gesellschaftlichen Mitte zu integrieren. Und so auch das Thema GRENZEN. In der politischen Auseinandersetzung würde das heißen, es nicht in eine abgewertete Ecke zu schieben, sondern sich dem mit Selbstsicherheit und Courage zuzuwenden. Und das Thema GRENZEN mit seiner sehr bedeutsamen und positiven Seite zu behandeln: Es geht dabei um Rahmensetzung, Sicherheit und Schutz bieten, Verantwortungsübernahme und Fürsorge für sich und die anderen. Unter solchen Bedingungen kann eine gesunde Autonomieentwicklung des Einzelnen überhaupt erst erfolgen. Grenzen setzen und Menschenliebe sind kein Widerspruch, im Gegenteil. Und Autorität ist etwas sehr positives.

Wo ist also der/die emotionale, authentische und begeisterungsfähige Politiker/in, die das Thema GRENZEN in seinen vielen Fassetten beherzt und tabulos anpackt? Weil es eben dabei um Abgrenzung UND Durchlässigkeit, um Konsequenz UND Flexibilität, um Festlegungen UND Offenheit für dynamische Entwicklungen geht.

So muss es zum Beispiel möglich sein, die EU in ihrer institutionellen Form als selbstgerechtes Bürokratiemonster zu bezeichnen ohne als Europagegner eingeordnet zu werden. An dieser Stelle sei nur beispielhaft erwähnt, dass es zwei komplette Parlamentssitze in Brüssel und Straßburg gibt, wo abwechselnd getagt wird und die Ausschüsse in Luxemburg stattfinden. Allein die Summe der Reisekosten der Parlamentarier ist zum Heulen und/oder Schreien.

Soll also jetzt der bildungsferne weiße Mann die Richtung bestimmen, weil er die Wahlen entscheidet? Ich setzte meine Hoffnung auf die jungen Generationen, die allerdings (noch) nicht auf die Idee gekommen sind, dass ihre Freiheit verteidigt werden muss. Wenn sie sich aber die Mühe machen sollten, sich darüber klar zu werden, was ihnen wirklich wichtig ist, woran sie glauben und wofür sie einstehen wollen, dann sind sie eine Macht.

Marcus Schönherr 11/2016

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