skip to content
Bild020 image

Übersicht

Atmosphärisches Wochenbuch

Zauber

Raimund Schöll am 20.11.2011

-> Hier können Sie Kommentare lesen oder schreiben

Da war diese große Pappel. Frei und stolz stand sie an der Biegung eines versiegenden Baches. Wir nahmen unter ihr Platz und sahen den Schwalben zu. Links und rechts Felder, die uns einrahmten und uns den Frühsommer in den Leib schrieben. Noch nichts war geerntet. Alles durfte wachsen, wie die alte Strickleiter über uns zur Baumkrone hinauf. Wer hatte sie wohl dort angebracht? Nur wenige Meter entfernt stand ein alter verrosteter Citroen in der bereits angedörrten Wiese herum, umrankt von ein paar wilden Mohnblumen. Wir packten unseren Proviant aus; eine Flasche Wasser, etwas Käse, Wein und Brot. Von weitem war die Autobahn zu hören. Aber es tönte nicht, als ob eine hässliche Teergerade die Landschaft zerschnitt, sondern als würden nur die Blätter und der Wind zusammen rauschen. Wir ließen uns einnehmen von der Stimmung des Augenblicks, fühlten uns an Monet, Manet und Van Gogh erinnert, wähnten uns wie von Zauberhand vermählt mit der leuchtend flirrenden Landschaft aus Gelb, Grün, ein wenig Blau und sanftem Rot. War ich ein Bauer, der sich in der warmen Zeit abends und morgens säend und erntend mühsam über Felder bewegte, um im Winter zu überleben? Und sie eine Bäuerin? Oder waren wir ein städtisches Liebespaar, das, unbeschwert über Felder und Blumenwiesen laufend, die Sommerfrische genoss? Ich weiß es nicht mehr.

Irgendwann nach endlos langen Minuten schepperte es. Ein Traktor, Baujahr Vorkriegsmodell mit aufgepflanzter Mähdreschapparatur, hielt neben uns an. Der Fahrer, ein junger Bauer, bedeutete uns, den Platz unter der Pappel zu räumen. Proprieté privée. Also packten wir eilig unsere Sachen und gingen die 200 Meter zum Standstreifen der Autobahn zurück und fuhren, nachdem wir den geplatzten Reifen gewechselt hatten, weiter.

Noch heute erinnere ich mich gerne an diese Autopanne, damals in der Provence, dans le Midi, wie die Franzosen zärtlich sagen. Besonders wenn andere mir ihre Gewissheit vor tragen, wir lebten heute in einer alles in allem entzauberten Welt.

Kommentare

21.11.2011

Matthias Ohler

Wunderbar! - Die Welt ist nur entzaubert, wenn wir nicht zaubern. Rorty: "Die Welt spricht überhaupt nicht. Wir sprechen."

Hier können Sie Kommentare schreiben

Zur Übersicht