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Atmosphärisches Wochenbuch

Neulich im Lokal - Auszug aus: Theo Dünnbiers Gedankenfluchten

Raimund Schöll am 29.12.2010

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Der Stoiker spürt, wie er jeden Tag stabil in der Welt ist. Seine Befindlichkeit wechselt nicht, weder von Tag zu Tag, noch von Stunde zu Stunde oder gar von Minute zu Minute, wie bei anderen Menschen. Für den Stoiker ist die Lage stets gleichbleibend. Der Tag besteht für ihn aus einer selbst auferlegten Abfolge von Routinen, Ritualen und Gebräuchen. Das Sprechen ist dem Stoiker meist lästig, sowie das Angesprochenwerden durch andere ihm einerlei ist. Was er selbst nicht ahnt: wie seine eigene Verfasstheit in die der anderen hineinwirkt. Das ist seine Stärke, sein As, das er ausspielt. Den Stoiker kümmert nicht, wie er als Person auf andere abstrahlt, in seinem Da-Sein. 

In einem Lokal saß ich neulich, um in Ruhe die Zeitung zu lesen und einen Kaffee zu trinken. Da stand plötzlich ein Herr mitten im Gastraum. Behäbig und schnauzbärtig mit rotem Gesicht, kam er zur Drehtür herein, er stand da, zog seinen Mantel aus und höflich seinen Hut, dann nahm er Platz an meinem Tisch. Der Mann gab sogleich seine Bestellung auf, aß in Folge eine Gulaschsuppe, ein Schweinekotelett mit einer ausladenden Portion Bratkartoffeln, dann einen Palatschinken. Dazu verleibte er sich mehrere Biere ein, sowie zum Schluss eine Sachertorte und zwei Portionen Kaffee. Die ganze Zeit über sprach der Mann kein Wort. Nur diverse Geräusche, angefangen vom Schmatzen bis hin zum mehrmaligen Räuspern, rhythmischen Schlürfen und einigen Nasenschneuzern, nochmaligen Räuspern und Schnäuzen, stießen dumpf in das schwülwarme Lokal hinein. Währenddessen starrte der Mann eisern an mir vorbei, sein Blick galt der Ferne, obgleich sich hinter mir nur eine weiße Wand, geschmückt mit einem Stilleben aus Obst, befand. Als der Mann seine Mahlzeit mit einem tiefen Schnaufer beendet hatte, tupfte er sich mit einer Stoffserviette die Schweißperlen von der Stirn, reinigte mit einem Zahnstocher sein Gebiss, zahlte schließlich und hob sich aufächzend vom Stuhl empor. Er vergaß dabei nicht, seinen Hut zu zücken und mir noch einen Guten Tag zu wünschen. Und ich? Ich war inzwischen bleimüde geworden, es handelte sich um eine Müdigkeit, wie sie mir nur ganz selten in den Körper fährt. Keine einzige Zeile der Zeitung in meiner Hand hatte ich, während der Mann mir gegenüber saß, gelesen, mein sonst so zuverlässig agierendes Denkorgan war auf Notaggregat geschaltet. Die ganze Zeit über, während dieser Mann an meinem Tisch aufgehalten hatte, schien wie ausgelöscht, ein schwarzes Loch. Was habe ich gedacht, was habe ich getan, was geredet? Ich wusste es nicht mehr. Unerklärlich, dachte ich. Unerklärlich, wie ein Mensch ohne Worte auf einen anderen Menschen einwirken kann, dachte ich, sagte auch Kronauer, lachte und verschwand gleich wieder. Das ist es, was ich über die Wirkungen von Stoikern vorläufig und nach meinem neuesten Kenntnisstand berichten kann. 

Aus: Theo Dünnbiers Gedankenfluchten - Die Kunst den Überblick zu verlieren, unveröffentlichtes Manuskript, 2010 (Raimund Schöll)

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