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Atmosphärisches Wochenbuch

Ottos Apokalypse

Raimund Schöll am 01.11.2013

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Ich bin in der falschen Straße, in der falschen Gegend, in der falschen Stadt, im falschen Land, zum falschen Zeitpunkt. Otto zog sich. während er das dachte, an der Nase, strich sich über die Augenbrauen, hustete und spuckte grünen Schleim. Schon seit Stunden irrte und wirrte er umher, fand keinen Ausgang aus den labyrinthischen Schluchten ringsum ihn herum. Haben Sie ein Problem? fragte ihn eine junge Dame im Vorrüberhasten. Nein! Ottos Hund knurrte, sprang ihm an den Beinen hoch, Autos rauschten vorbei, hektisches Gehupe und Geschimpfe aus offenen Fenstern, Lichtreklamen, an jeder Ecke, lila, orange, rot, blau gelb. Und eine Liftaßsäule gegen die er mit der Stirn stieß, als er sich nach dem Hund umdrehte, der winselnd sich die Pfote leckte. Es begann zu regnen. Der Asphalt glänzte, dreckige Pfützen schrien ihn an. Er solle sich verpissen. Otto wankte, Otto schrie, der Horizont in der Ferne lief grün an, Feuer spie aus den Schornsteinen, am Himmel wankten große Bretter die Baustelle entlang, Gerüste klapperten, ein paar Bauhelme, die an Haken hingen, hallten dumpf in die Nacht hinein. Bigotte Weiber mit Kopftüchern strandeten in den Straßen und liefen ihm mit Besen in den Händen hinterher. Otto schlug um sich, rief und fluchte, dann fiel er augenblicklich in ein Loch, das wie eine schwarze Wunde den Asphalt aufriss. Er fiel minutenlang den dunklen Kanal hinunter, Otto spürte den Luftzug, den Gestank nach Verwesung roch er, und sein Geschrei ging theatralisch unter in Beethovens fünfter Sinfonie, bis er schließlich auf gelbem Meersand landete und ihm sein Hühnerauge am linken Fuß auffiel, das ihm hellrot entgegen leuchtete. Otto bemerkte, dass er im Auge der Apokalypse gelandet war. Das war’s, dachte er. Er stand auf, reckte seinen Leib, wusch sich, verabschiedete sich von seiner Frau, brachte seinen quengelnden Sohn in den Kindergarten und begann im Tower schließlich routiniert die Morgenbesprechung - mit all seinen weißlich dreinblickenden Abteilungsleitern und einer Tasse schwarzen Kaffee in der Hand. Wie jeden Tag.

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