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Atmosphärisches Wochenbuch

Mein Auschwitz

Matthias Ohler am 27.01.2015

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Jahrestag der Befreiung des Lagers Auschwitz im Jahr 1945 durch die Rote Armee ...

Im Jahr 1988 betrat ich im Rahmen einer Konzerttour nach Warschau, Krakau und Tschenstochau das Konzentrationslager Auschwitz das erste mal. Dieser Besuch hatte "nur" dem "Stammlager" I gegolten. Allein der Schritt durch das Tor mit der Überschrift "Arbeit macht frei" in den "Anus Mundi" verlangte alle Konzentration, – um nicht umzufallen angesichts des bedrängenden Wissens, wie viele hier nicht mehr rauskamen und man selber nun einach hineinspaziert und ziemlich sicher wieder raus.

1992 folgte eine zweite Konzerttour nach Polen. Wieder kam ich nach Auschwitz. Diesmal allerdings ins Lager Birkenau, das als das "Vernichtungslager" bezeichnet wird.

Ich machte einen Versuch: Ich stellte mich an die Rampe. Hier hielten die Züge, aus denen die her gefahrenen Häftlinge herausgetrieben wurden, sich in Reihen aufzustellen hatten und dem Kommando vorgeführt wurden, das entschied, ob jemand als arbeitsfähig einzustufen sei oder gleich in die Gaskammer geschickt wurde.

Ich versuchte, mir vorzustellen, was es gewesen sein musste, mit einem dieser Züge anzukommen. Welch eine Hybris, mag man denken. Welch eine Erfahrung, denke ich noch immer. Dann drängte es mich – zunächst gegen meinen erlebten Willen – mich umzudrehen und mir vorzustellen, was es gewesen sein musste, einer derer zu sein, die entscheiden. Die Erfahrung war eindeutig: es war – wieder zunächst gegen meinen erlebten Willen – unwidersprechlich klar, dass ich auch auf dieser Seite hätte zu stehen kommen können, aus welchen Gründen und Ursachen auch immer.

Die Schlussfolgerung, die mir heute, vielleicht mehr als damals, immer noch einleuchtet: Es geht nicht darum, schlicht die Geste des Verurteilens mitzutun. Es geht auch nicht darum, anzuklagen aus einer – eingebildeten – Position dessen, der kaum aushält, was er da zu sehen bekommt. Es geht auch nicht darum, zu rechtfertigen, was getan wurde und man selber vielleicht hätte tun können. – Es geht darum, in Erfahrung zu bringen, wozu man fähig ist, um dann alle Konzentration darauf zu richten, wie man dafür sorgt, es nicht zu tun und dass es von niemandem anderen getan wird.

Kommentare

28.01.2015

Matthias Ohler

Ja, sicher, genau. Der Schlussstrich wäre ja auch der Schussstrich unter die Untersuchung seiner selbst. Katastrophal!

28.01.2015

Raimund

Geht es nicht auch um die Fähigkeit - selbst nach all den vielen intellektuellen Einordnungen des Geschehens - immer noch mitfühlen zu können? Mein/dein Mitgefühl, welches sich genau an der Grenze zum Unerträglichen bewähren kann, ich dem Impuls weg zu sehen widerstrebe und schaue. Und ich meinen Körper das sprechen lasse, was er zu sagen hat und schließlich mitdenke. Das Gegenteil tun von "Schlussstrich" also.

"Der Mensch ist ein grausames Tier" (Sebastião Salgado).

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