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Atmosphärisches Wochenbuch

Palliative Mittagspause

Raimund Schöll am 25.01.2011

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Da sind draußen Bäume in Raureif schneeweiß getaucht. Wie ein Fingerzeig ein Ast, der kurvig in den weißen Himmel ragt, notierte ich. So wollte ich meine Geschichte, mein Gedicht in der Mittagspause beginnen. Aber sogleich kam mir der Gedanke wie nichtssagend, ja lächerlich diese Naturbeschreibungen eigentlich sind. Also wollte ich diese zwei Sätze einfach so stehen lassen in meiner Kladde, legte meinen Stift zur Seite, um zur Tagesordnung über zu gehen. Man muss ja nicht gewalttätig werden beim Schreiben und schon gar nicht, wenn eine Geschichte aufhört, eh sie begonnen hat. Ein Blick aus dem Hotelzimmer, zwei Sätze: nun gut, dachte ich. Aber jetzt sprang dieser Mann ins Bild hinein. Ich konnte gar nichts dagegen tun. Plötzlich war er da. Es handelte sich um einen Schornsteinfeger, oder sagen wir lieber Kaminkehrer. Ein Fuß des Kaminkehrers baumelte mitsamt des Beines auffällig lose nach vorne. Auf einer Art Stahlseil ritt er in die Höhe in die linke obere Bildhälfte meines Gesichtsfeldes. Die Bäume, die Natur, mein Satzanfang - all das  geriet  nun doch ins Rollen, die anfängliche Textschwere schlich sich aus dem Bild und ich fand Gefallen daran. Als dann auch noch meine alte Bekannte, Herta Kapirske, auftauchte, die ich Ihnen vielleicht an anderer Stelle noch vorstellen werde, wusste ich, dass ich den Stift doch nicht zur Seite legen würde. Ich setzte Herta auf die unten stehende grüne Parkbank und ließ sie bei Wärme und Sonnenschein die Vögel füttern. Mir wurde warm ums Herz, obgleich Winter war. Dann bemerkte ich, wie die Bäume wieder in mein Gesichtsfeld eintraten. Ich fühlte mich ein wenig gedrängt, sie wieder in Augenschein zu nehmen. Denn Prof. Rösenteich sagte einmal, ich solle mich nicht hineinsteigern in diese Eigenbilder, weil das nur verrückt mache, stattdessen solle ich lieber die Realien, wie er sagt, in Augenschein nehmen. Nun gut, dachte ich und schaltete aus Vernunftgründen den Fernseher ein. Das Mittagsmagazin sendete etwas über Arbeitsgerichtsentscheidungen, über Touristen reißende Haifische, über einen Ehrenmord in x-Stadt, einen Totschlag in y-Dorf und über die Alkoholfahrt eines drittklassigen Schauspielers. Aber ich konnte nicht anders und wendete mich nun doch wieder meinen Kopfgeburten zu. Der Kaminkehrer war immer noch da. Ich mochte es, wie er sich draußen im linken oberen Bildrand betätigte und dann wendete ich mich Frau Kapirske zu und ich mochte es, wie sie sagte, dass ich mich nicht beunruhigen lassen solle und wie sie dabei zu mir hoch sah und mir zuzwinkerte, wie sie mich reizte, mochte ich, mit ihren weißen Strümpfen, die sie als Strapse in der Hitze des Sommers angezogen hatte - extra für mich. Aber das alles war eigentlich sehr unwichtig, wie sich später heraus stellen sollte, weil in Beirut zur gleichen Zeit eine arabische Familie, es handelte sich um vier Männer und drei Frauen, die Straße entlang ging, um Bananen, Orangen und einen Sack Reis ein zu kaufen. Zeitgleich verkündete der Ministerpräsident Griechenlands im vertraulichen Kreise seiner Mitarbeiter, der Nation einen harten Sparkurs zu verordnen. Dies erfuhr ich später vertraulich von Albert Redlich, der immer sagt, nicht relativ sei alles, sondern die Dinge verhielten sich palliativ zueinander. Auf dieser Welt lindert das eine das andere, so bleibt alles in allem alles im Gleichgewicht, sagt Redlich.

 

Aus: Theo Dünnbiers Gedankenfluchten - Die Kunst den Überblick zu verlieren, unveröffentlichtes Manuskript, 2010 (Raimund Schöll)

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