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Atmosphärisches Wochenbuch

"Dichte" Beschreibung, Mißbrauch und die Odenwaldschule

Raimund Schöll am 10.08.2011

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Um Atmosphären konzeptionell zu fassen zu kriegen, eignet sich meines Erachtens besonders gut der Terminus technicus von Clifford Geertz - dichte Beschreibung. Damit ist mehr oder weniger gemeint, eine kulturelle Situation in ihrer Eigenart sei möglichst so darzustellen, dass die Essenz oder das Typische der Situation erkennbar wird. Geertz stellt seinen interpretativen Forschungsansatz anhand zahlreicher Essays unter anderem über den balinesischen Hahnenkampf in seinem gleich lautendem Buch - als Beitrag zum Verstehen kultureller Systeme - vor. Für Atmosphäriker mehr oder weniger ein „Muss“. 

„Dichte" Beschreibung - im Gegensatz zu „dünner" Beschreibung, die sich nur auf das Sammeln von Daten beschränkt -, heißt nach Geertz, die komplexen oft übereinandergelagerten und ineinander verwobenen Vorstellungsstrukturen eines kulturellen Systems herauszuarbeiten und dadurch einen Zugang zur Gedankenwelt der untersuchten Subjekte zu erschließen (vgl. Geertz, 1983).

In der gestrigen ARD-Reportage „Geschlossene Gesellschaft – Der Missbrauch in der Odenwaldschule“ vom 09.08.11, wurde dieser Anspruch Geertz’ beispielhaft eingelöst, meine ich. Neben der Darstellung der objektiven Rahmen- und gesellschaftspolitischen Ausgangsbedingungen (die Schule sollte ein Fanal sein; ein großer Kreis von kulturell und politisch hoch gestellten Menschen, Netzwerken und Eliten unterstützte das Projekt; es gab dort die von Weizsäckers, die Porsches, die von Dönhoffs etc.) bis hin zu detailgenauen Schilderungen einzelner Missbrauchssituationen wurden dichte Beschreibungen vorgestellt, so dass man als Zuseher die in Teilen der Schule - in sogenannten „Familien“ - anzutreffenden Ohnmachts- und Abhängigkeitsverhältnisse spürbar, keineswegs jedoch sensationsfiebrig, nachvollziehen konnte. Besonders eingängig waren diverse Interviews mit ehemaligen Schülern, denen eingeräumt wurde, ihre ehemals unglückselige Situation an der Reformschule in slow motion und in der gebotenen Offenheit darzustellen: „Ich wurde beinahe täglich von Gerold Becker am Schwanz gelutscht.“ Der gefühlte Irrsinn durfte sich vor der Kamera sprachlich entfalten, dem Zuschauer wurden die Unfaßbarkeiten, die sich in der Odenwaldschule seit den 60er Jahren und schon früher bis in die 90er hinein abgespielt haben, als "dichte" Beschreibungen zugemutet.

Atmosphären, insbesondere solche, die wir als existentiell verstehen, werden dann nachvollziehbar, wenn wir uns als Beschreiber bemühen, den "objektiven" Sachverhalten eine Plattform zu geben, wir andererseits - in aller gebotenen Vorsicht natürlich - aber auch die dazugehörigen Emotionen und Stimmungen sich als Narrative entstehen lassen. Ohne kühle und warme Sprache keine Atmosphäre, zumindest nicht als dichte Beschreibung, könnte man verkürzt auch sagen. In diesem Sinne waren die Äußerungen der aktuellen Schulleiterin der Odenwaldschule, Margarita Kaufmann, zum Schluss der Reportage - zumindest aus atmosphärologischer Perspektive - aufschlussreich. Sinngemäß meinte sie, dass ihr erst durch die detaillierten Äusserungen der Opfer die Dimension des Wortes "Missbrauch" peu à peu klar geworden sei. Solange überall immer nur abstrakt von "Missbrauch" die Rede war, sei ihr nicht klar gewesen, was sich eigentlich hinter diesem Wort verbirgt und was überhaupt in dieser Schule los gewesen ist. Chapeau, neue Odenwaldschule!

Kommentare

24.09.2011

xcratz

Die Doku ist wirklich herausragend, aber Herr Schöll ist nicht ganz "dicht" mit seiner Kritik.

10.08.2011

Matthias Ohler

Geertz hat den Begriff, das muss hier gesagt werden, von Gilbert Ryle übernommen. Und "Missbrauch" ist ein geradezu klassisches Beisel für die Gefahren. Gibt es denn, im bedachten Kontext, Rechtbrauch oder ähnliches? Dahinter steht jedenfalls die Gebrauchs-Metaphorik im Zusammenhang mit Pädagogik und Sexualität. Da kann die Beschreibung auch mal etwas zu dicht geraten - oder nicht ganz dicht.

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