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Atmosphärisches Wochenbuch

Scham und Empörung

Raimund Schöll am 23.07.2015

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Scham ist, wenn man das Gefühl hat, dass etwas nach außen tritt, was eigentlich nicht nach außen hätte treten sollen. Ein Gefühl der Verletztheit der eigenen Innensphäre der unfreiwilligen Offenlegung, weil man womöglich gewissen Erwartungen oder Vorstellungen nicht entsprochen hat. Scham fühlt man in der Regel allein für sich selbst, oft ohne dass sie von anderen überhaupt bemerkt wird. Aber es gibt auch ein anderes Schämen, eines das nicht sich selbst meint: Das sogenannte Fremdschämen. Man schämt sich nicht für sich sondern für einen anderen. Man springt gewissermaßen für diejenige Person ein, die sich nicht schämen will oder kann, vielleicht aber sollte. Ja, ich gebe zu: ich schäme mich hin und wieder - auch für andere. Es geschieht nahezu automatisch, ich kann nichts dagegen tun. Ich erlebe die Handlungen und Worte eines anderen und schäme mich. Womöglich handelt es sich dabei um eine Art Ausgleichshandlung. Man gleicht den Unsinn des anderen aus, indem man sich stellvertretend für ihn schämt. Um so zu sagen: So geht es nicht. Im Zweifelsfall ist mir das Fremdschämen aber sympathischer als die Empörung. Wer sich für jemand anderen schämt, schämt sich, weil er sich vorstellt, was der Fall wäre, er selbst würde diesen und jenen Unfug sagen oder anrichten, was ja prinzipiell möglich wäre. Die Empörung dagegen gibt sich schwer erhaben. Sie kennt nur die eine Seite - die nämlich der moralisch richtigen. Die Empörung empört sich ambivalenzfrei, das Fremdschämen kaum. Wenn wir uns für andere schämen, denken wir immer unsere eigene dunkle Seite mit. Empörung dagegen kennt nur den Unsinn, die Amoralität des anderen. Und abgesehen davon: Vielleicht hat sich ja freundlicherweise auch mal jemand für mich geschämt? Anstatt sich über mich zu empören?! Wer weiß? (O.G)

Kommentare

26.07.2015

MatO

https://www.youtube.com/watch?v=qFW-IjbCCZA

Da helfen weder Scham noch Empörung, nur Beobachtung, genaue, auch selbstbezogene.

25.07.2015

R.S.

Ich fürchte da liegt ein Missverständnis vor. Der Ausruf "Schämt euch!" ist ja gerade eine typische Ausformung der Empörungsrhetorik. Scham dagegen ist ein körperlich angelegtes Gefühl. "Schämt euch!" hat mit Scham nur insofern etwas zu tun, als der Empörer andere hierzu auffordert. Ein Beispiel wäre Freisler in seinen Volksgerichtsprozessen. Er hat sich inszentatorisch empört, hat seinen Opfern zugeschrien, sie sollten sich was schämen. Und die haben sich geschämt (deutlich ablesbar an der Körperhaltung) und - ich bin sicher - auch fremdgeschämt. Scham und Fremdscham sind leise Gefühle. Und by the way: Beim Anschauen der Freislerprozesse kann ich mich empören, oder auch fremdschämen. Vielleicht sogar beides?!

25.07.2015

Matthias Ohler

Als Stéphane Hessel schrieb: Empört euch, meinte er nicht: Schämt euch. Empörung ist eine kaum verzichtbare politische Größe. Empörung äußert sich, und sie begibt sich gerade dadurch in das Risiko der Ambivalenz, weil sie – zB als unbegründet oder eben auch gespielt – zurückgewiesen werden kann. Fremdscham ist, besonders als geäußerte, ein subtileres Machtspiel.

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