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Atmosphärisches Wochenbuch

Das Verständnis

Raimund Schöll am 28.03.2012

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Ein junges, intellektuell wirkendes Paar im Wanderoutfit sitzt eine ganze Weile schon in der Stube des Gasthofs zum Hirschen. An der rotweißkarierten Bluse der Frau steckt eine welke Zwergrose im Knopfloch. Ihre streng nach hinten gebundenen Haare sind von der Frischluft des Gebirgsgangs leicht zerzaust. Das hübsche wie strenge Gesicht hält mühsam Gefühle im Zaum. Der Mann nimmt während des Essens kaum den Blick vom Teller. Hin und wieder versucht er, eine kreisende Eintagsfliege mit seiner Hand zu greifen – vergeblich. Die Holztüre unterm Kruzifix quietscht. Zwei ältere Gäste mit Rucksack verabschieden sich freundlich nickend aus der Gaststube, als sie zur Rede anhebt: „Wenn du mir nur endlich sagtest, was zu sagen ist, Claudius. Heut an meinem Geburtstag, wäre die Gelegenheit dazu gewesen. Den ganzen Tag hättest du fragen können. Stattdessen immer nur wieder deine hilflose Sprachlosigkeit. Das Fass ist voll! Es hat keinen Zweck, Claudius, du wirst nie die Chuzpe haben! Da helfen dir deine ganzen Bücher nicht.“

Er, sich windend wie eine Raupe auf dem Ast, blickt gen Holzdecke, lässt Messer und Gabel auf seinen Teller sinken, sichtbar bemüht, der Szene, die ihm gemacht wird, Herr zu werden, faltet mit gepressten Lippen die Hände, wendet sich ihr zu: „Hör zu Mariechen, die Auflösung des Randes zwischen Ich und Du - das ist es doch, was die Liebe ausmacht. Hingabe!, verstehst du. Wahre Liebe muss sich am Grad der Leidenschaft messen lassen. Es braucht den richtigen Zeitpunkt für eine Heiratserklärung, Liebste. Hast du mal Rilke gelesen?“

Während sein Arm nach ihren zierlichen Schultern ausholt, springt sie vom Stuhl, wirft sich, am ganzen Körper bebend, die Strickjacke um den Leib und verlässt heulend das Lokal.

Die alte Wirtin indes, freundlich um die noch wenigen verbleibenden Gäste bemüht, wischt Staub von großen und kleinen Reh- und Hirschköpfen, die zwischen Zinntellern und anderem Nippes von den Holzwänden gucken. Über des Mannes Kopf befindet sich ein Geweih, ohne Kopf. Als sie zu seiner Sitzbank kommt, sich mit dem Lappen nach dem Hirschschmuck reckt, sagt sie: „Bleibens sitzen, der junge Herr. Swerd net besser, wenn’s Ihra jetzt hinterher laffa. Aber wissen’s scho, des hätten’s ihra fei scho a bisserl anders sagn müssen, dass S’ a mal zur Probe mit ihra schlafa mögn - vor der Ehe. Als i no jung war, hat mei Mann gsagt, vor da Hochzeit: Komm Monerl, bevor ma heiratn, geh mas a moi probeweise oh.“

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