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Atmosphärisches Wochenbuch

Wie beeinflusst Atmosphäre die Urteile von Punkterichtern beim Boxkampf?

Raimund Schoell am 01.06.2010

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Wie beeinflusst Atmosphäre die Urteile von Punkterichtern beim Boxkampf?

Desnachts beim Fernsehen. Ich zappe mich durch die Programme und bleibe beim Boxkampf kleben. Es geht um den Fight zwischen dem deutschen Weltmeister im Mittelgewicht Sebastian Sylvester und seinem acht oder neun Jahre älteren Herausforderer Roman Karmazin - Live aus Neubrandenburg. Ein Kampf, der offensichtlich schon länger in der Sportpresse gehandelt wurde. Als Favorit gilt der aus Mecklenburg stammende Sylvester, genannt Hurrikan. Das Publikum in der Halle übt sich in demonstrativer Siegeszuversicht: rhythmisches Klatschen, auf den Tribünen Gesichter in freudiger Erwartung. Es scheint das allgemeine Einvernehmen zu geben, dass der deutsche Titelverteidiger gewinnen wird. Schließlich wolle Sylvester, so der launige Kommentar des Fernsehreporters, seine Lebensgefährtin doch demnächst als Weltmeister heiraten. Nun laufen die Matadore zur Musik von den Scorpions (Rock You Like a Hurricane) und Rap-Gesang in die Arena ein. Dann noch das Abspielen der Nationalhymnen und ein paar feierliche Worte des Moderators und der Schiedsrichter gibt den Kampf frei. Die Kontrahenten führen ihre ersten Manöver durch. Sie belauern sich und landen wechselseitig ihre Treffer. Jeder erfolgreiche Hieb, der von Sylvester kommt, wird beklatscht und feuert weiteren Sprechgesang an. Karmazins Treffer stoßen kaum auf Resonanz. Doch beide Boxer sind in den ersten Runden ungefähr gleich stark. Nach ein paar Runden wird es ruhiger in der Halle. Sylvester hat sich wider Erwarten bisher nicht eindeutig durchsetzen können. Ab Runde 5 kippt die labile Balance sogar zugunsten Karmazins. Er landet in den folgenden Runden stets einige Treffer mehr als Sylvester. Karmazin fightet auch insgesamt beweglicher und aktiver als Sylvester, merkt der Kommentator an. Trotz offenkundiger Sympathie für Sylvester stellt er nüchtern fest, dass viele Punktsiege auf das Konto Karmazins gehen. Roman Karmazin liegt bis zur 9. Runde leicht vorne. In den beiden letzten Runden versucht Sebastian Sylvester das Blatt noch einmal für sich zu wenden. Mit vereinten Kräften gelingen ihm noch ein paar energische Treffer, aber er kann weder durch k.o. noch durch herausragende technische Fehler Karmazins den Kampf für sich entscheiden. Ein insgesamt wenig spektakulärer, aber dennoch spannender Kampf, befindet der Reporter.

Interessant nun, was nach Ende des Kampfes geschieht. Während die Punkterichter in der lauten Halle augenblicklich mit ihrer Arbeit des Punktezählens beginnen, sieht man auf dem Fernsehschirm in Großaufnahme wie Sylvester in Siegerpose den Ring auf und ab wandert. Ich finde das erstaunlich, denn nach sicherem Sieg für Sylvester sah das alles eben nicht gerade aus. Das Publikum stimmt jedoch sofort ein und quittiert die Siegerpose mit begeisterten Jubelchören: „Oh es ist so schön, oh es ist so schön....“ Auch die Betreuer von Sylvester wirken siegesgewiss. Als ob das, was in der Kampfarena nicht realisiert worden ist, nämlich der klare Sieg oder ein Unentschieden Sylvesters nun herbei atmosphärisiert werden soll. Die Stimmung ist auf Sylvesters Seite, die Fakten sprechen eher für den knappen Sieg Karmazins. Was dazu bemerkenswert ist: Die Punkterichter lassen sich viel Zeit mit der Errechnung der Ergebnisse. Sie scheinen sogar hin und her zu korrigieren. Ein Betreuer Karamzins kann diesen Vorgang offenbar nicht akzeptieren und stürmt erbost auf das Kampfgericht zu während die 4500 Zuschauer weiter ihr Sieglied skandieren. Inzwischen bin auch ich immer weniger davon überzeugt, dass Karmazin zum Sieger erkoren wird, zumal auch Henry Maske sich zum Anwalt der vorherrschenden Stimmung macht. Beim kurz eingeblendeten Interview mit einem Reporter reklamiert er den Heimvorteil, der wohl dafür sorgen würde, dass Sylvester trotz eher mittelmäßiger Leistung mit einem Unentschieden davon kommt. Ich staune wieder: Der Heimvorteil soll das Ergebnis des Kampfes beeinflussen?! Dann kommt es zum Urteilsspruch: REMIS. Dieses setzt sich wie folgt zusammen: Der kanadische Punktrichter Pasquale Procopio hat auf (114:114) entschieden, also Unentschieden. Der Amerikaner Matthew Podgorski wertet Weltmeister Sylvester mit einem gewaltigem Vorsprung zum Sieger (117:111). Dagegen findet sein Landsmann John Lawson, dass der Herausforderer Karmazin als klarer Sieger (118:111) hervorgeht.

In der anschließenden Presse steht: Haben beide Amerikaner tatsächlich denselben Kampf gesehen? Ich frage mich das auch. Ich bin aber davon überzeugt, dass die Punktrichter die gleiche Atmosphäre während des Kampfes erlebt haben. Eine Frage aus atmosphärologischer Perspektive könnte lauten: wäre dieses eigenartige Ergebnis auch zustande gekommen, wenn die drei Punktrichter nach dem Kampf zur Auszählung in einem kühlen Raum gesessen hätten?
 

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