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Atmosphärisches Wochenbuch

Pflichtschuldigst

Raimund Schöll am 24.07.2013

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Sie hatte sich immer um alles gekümmert. In der Kirche zündete sie Kerzen an, ihren Kindern band sie die Schuhe, nach dem gemeinsamen Abendessen machte sie den Abwasch. Sie erledigte die private Korrespondenz, während ihr Mann fernsah oder über Akten vertieft saß und warf ihm pflichtschuldigst den Blick der liebenden Ehefrau zu. Gern ging sie spazieren oder fuhr zur Sommerfrische in die Berge oder in das Ferienhäuschen auf Sylt. Nie allein versteht sich. Immer mit Mann, den Kindern und den Hunden. Wenn sie sich abends mal mit der Freundin traf, rief sie mindestens zweimal zu Hause an, ob zu Hause alles in Ordnung war. Kurzum liebte sie es, für andere da zu sein, ein nützliches Glied in der Ahnenkette protestantisch anerzogener Selbstlosigkeit zu sein.

Doch gab es da noch was. Sie ging hin und wieder auf den Strich. Ja richtig, auf den Strich. Heimlich, einmal in der Woche, meistens am helllichten Vormittag und am anderen Ende der Stadt, wenn die Kinder in der Schule, der Mann in der Arbeit waren. Es fing damit an, dass man für die Schwestern im Geiste eine Art Seelsorge betreiben wollte. Es gab da ein Projekt, ein Ehrenamt. Dann aber, nachdem sie gemerkt hatte, wie wenig das Leben sie kannte, aber auch aus Neugier und Erfahrungsdurst, fühlte sie sich angezogen von dieser Atmosphäre der sich langsam nähernden Autos, der tastenden Blicke und den geschäftsmäßigen Verhandlungen. Sie mochte es, wenn Männer schwitzend auf ihr lagen, sie winselten und stöhnten. Und wenn sie auch hier nützlich sein konnte. Es machte ihr Freude, ihre Selbstlosigkeit ins Anonyme zu treiben und aufs Körperliche auszudehnen. Und peu à peu erfuhr sie, wie wenig Unterschied bestand zwischen dem Leben, das sie offiziell führte, und dem, das sich dort in finsteren Hausecken vollzog.

Diese Frau, die Witwe eines ehemaligen Bankdirektors, immer noch attraktiv, aber fragil wirkend, versicherte mir im resoluten Ton, sie habe sich nie falsch gefühlt dabei, als unser Zug in Berlin einfuhr. Es sei ihr Schicksal gewesen so gelebt zu haben, sagte sie. Sie sei immer zu Diensten gewesen, und sie hätte es sich auch nie anders vorstellen wollen.

(O.G.)

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