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Atmosphärisches Wochenbuch

Ohne Worte keine Atmosphäre

Raimund Schoell am 03.06.2010

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Urlaubszeiten sind Zeiten in denen wir unseren gewohnten Bahnen zu entkommen suchen. Wir lassen die Alltagsroutinen hinter uns, streifen sie ab wie ein schmutziges Hemd, um den Staub und den Schweiß, die darin enthalten sind, los zu werden. Bloß nicht das Übliche flüstern wir als inneres Mantra vor uns her. Und um zu erreichen, dass dies auch ja geschieht begeben wir uns in fremde Regionen und an unbekannte Orte. Der unbekannte Ort verführt uns zu neuen Stimmungen, Anmutungen und Betrachtungen, lädt ein zur Atmospärologie. Der folgende Text mit anschließender Reflexion entstammt einem Urlaubstagebucheintrag vom 15.5.10. Er ist entstanden in einem einsamen andalusischen Bergtal nahe Malaga. Ich gebe ihn im Original wieder: 

Atmosphäre. Ein paar Gedankengänge. Die Atmosphäre hier im Tal von Sedella. Fast möchte ich sagen, dass die Atmosphäre hier eine ist, die man gar nicht beschreiben kann. Aber stimmt denn das? Ich liege hier inmitten praller Wärme. Um mich herum weht hin und wieder ein böiger, aber angenehmer Wind. Die Sonne scheint auf die Buchseiten. Meine Haut ist erhitzt. Etwa drei Meter entfernt bewegt sich eine Palme im Wind, deren Palmwedel sich nach allen Seiten hin öffnen. Auch das Tal rechts, auf das ich hinunter sehen kann, wirkt nach oben geöffnet. Der wilde Wein, der sich um das Gatter des vor mir liegenden Schuppen rankt, wächst in alle Richtungen. Als ob die Natur sich der blauen Himmelsfarbe lethargisch aber heiter ergibt. Während ich auf meinem Liegestuhl zur Sonne hin ausgebreitet verweile, habe ich das Gefühl von der Gastlichkeit dieses Tales empfangen zu sein. Das Tal zelebriert seine Eigenart mir gegenüber und erfreut sich daran, sich stolz und ausgelassen zu präsentieren. Als staunender Talgast bin ich willkommen hier.

 ....eine halbe Stunde später

Bei der Darstellung der von mir empfundenen Atmosphäre habe ich viele Dinge nicht erwähnt, z.B. die zwitschernden Vögel, den hellblauen kleinen Swimmingpool links neben mir, die in der Weite liegenden, auf kleinen und großen Anhöhen stehenden Mandel- und Olivenbäume. Aber wäre das wichtig gewesen? Vielleicht. Doch meine ich, dass Atmosphärendarstellungen weder Lücken noch keine Lücken haben können, da sie ja niemals Abbildungen von etwas sind. Wer könnte schon sagen: Da ist die Atmosphäre, beschreibe sie! Jeder würde fragen: ja wo ist sie denn? Ich glaube, man kann sich nur verlaufen, wenn man denkt, Atmosphären seien annähernd vollständig beschreibbar. Genau genommen entstehen Atmosphären erst dann, wenn jemand (es können natürlich auch mehrere sein) eine Umgebungsqualität wahrnimmt und fühlt und er dieses Wahrnehmen und Fühlen durch Worte und deren Klang zum Ausdruck bringt. Der Wahrnehmende identifiziert die aus seiner Sicht bedeutende Aktanten oder Ereignisse und bringt diese zur Sprache. Atmosphäre wäre so gesehen eine Art Bekleidungsakt, ein Prozess, der erst durch das Sprechen und durch die benutzten Worte, die Wortwahl und den Wortklang in Erscheinung tritt. Vor der Äußerung ist gar keine Atmosphäre, weil eine bestimmte Atmosphäre erst als Wort oder Darstellung in Worten in Erscheinung tritt. Ohne Worte keine Atmosphäre.

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